Andreas Saumweber
Schattensturm
Druidenchronik. Band 2
Roman
Aufbau-Verlag
ISBN E-Pub 978-3-8412-0098-3
ISBN PDF 978-3-8412-2098-1
ISBN Printausgabe 978-3-7466-2645-1
Aufbau Digital, veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, November 2010 © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin. Die Erstausgabe erschien 2010 bei Aufbau Taschenbuch, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
Copyright 2010 by Andreas Saumweber und Aufbau Verlag
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen
sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.
Umschlaggestaltung morgen, Kai Dieterich unter Verwendung mehrerer Motive von iStockphoto © Iconogenic, © Nitin Sanil, © Ufuk ZIVANA
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
www.aufbau-verlag.de
PROLOG |
VERONIKA |
MICKEY |
DERRIEN |
BATURIX |
DERRIEN |
MICKEY |
VERONIKA |
DERRIEN |
KEELIN |
WOLFGANG |
VERONIKA |
BATURIX |
KEELIN |
DERRIEN |
VERONIKA |
BATURIX |
WOLFGANG |
KEELIN |
BATURIX |
WOLFGANG |
DERRIEN |
MICKEY |
KEELIN |
DERRIEN |
BATURIX |
VERONIKA |
WOLFGANG |
DERRIEN |
MICKEY |
DERRIEN |
KEELIN |
WOLFGANG |
DERRIEN |
VERONIKA |
KEELIN |
WOLFGANG |
VERONIKA |
MICKEY |
KEELIN |
VERONIKA |
BATURIX |
DERRIEN |
MICKEY |
KEELIN |
MICKEY |
BATURIX |
EPILOG |
DRAMATIS PERSONAE |
DANKSAGUNG |
Schattenfluch |
Katakomben des Petersdoms, Rom
Montag, 05. April 1999
Die Außenwelt
Die Katakomben des Petersdoms erinnerten Christopher jedes Mal an das Labyrinth des Minotaurus. Lange, verwinkelte Korridore, schlecht belüftet und noch schlechter beleuchtet; Kerkerzellen, deren Insassen von der Menschheit vergessen vor sich hin vegetierten; ab und an ein gellender Schrei eines Folteropfers – so sah die Heilige Römische Kirche hinter ihrer Fassade aus Gold, Brokat und Weihrauch wirklich aus. Denn dies hier waren die Katakomben der Heiligen Inquisition.
Wie sich wohl Theseus gefühlt hatte, als er in das Labyrinth hinab gestiegen war, um das Monster zu erschlagen? Ein bisschen konnte sich Christopher in den Helden hineinversetzen. Auch hier lauerte die Gefahr an jeder Ecke. Selbst anderthalb Jahrtausende nach dem Fall des Römischen Reichs war Rom durchsetzt von Ränke und Intrige. Ein Spiel für die gelangweilten Potentaten der Kirche, die von ihrem ungeheuren Reichtum längst satt und stumpf geworden waren. Ein Spiel, das selbst die Mächtigsten stürzen und neue Emporkömmlinge ins Licht rücken konnte. Ein Spiel, in dem Gewalt und Verrat so alltäglich waren wie in der Unterwelt mancher gefallener Großstadt.
Christopher freute sich darauf, der Stadt bald wieder den Rücken zuzukehren. Er hasste die Arroganz, die Rücksichtslosigkeit, die Besessenheit der Potentaten. Denn besessen waren sie alle – die meisten von Macht und Reichtum, viele von perversen Lüsten, einige von Drogen. Eines machte sie gefährlicher als das andere.
|10|Trotz alledem war die Inquisition ein gut organisierter, effektiver Apparat. Von hier aus wurden mehr als zweihundert Inquisitoren gesteuert, mehr als tausend Agenten und weiß Gott wie viele Spione. Hier liefen die Fäden zusammen, hier war das Zentrum des Spinnennetzes. Nicht viele Geheimdienste arbeiteten besser als die Inquisition. Und keiner davon beschäftigte sich mit dem Übernatürlichen.
Christopher ließ die Katakomben hinter sich und war froh darüber. Die düsteren Korridore konnten einem Mann ziemlich auf das Gemüt schlagen, und das war haargenau ihr Zweck. Ein psychologischer Trick für Gefangene wie für Mitarbeiter. Wer nicht gestand, wer sich nicht an die Regeln hielt, endete hier, wo eine sinnlose Existenz und ein unendliches Leiden auf ihn warteten.
Die eigentlichen Arbeitsräume der Inquisition lagen zwar ebenfalls unterirdisch, hatten aber mit den Katakomben nicht mehr viel gemein. Hier gab es Teppichböden, Ventilatoren, Namensschilder, Überwachungskameras und Haussicherheit, nicht anders als in einer Konzernzentrale. Dies war auch ein gerne verwendetes Code-Wort für die Inquisition: Der Konzern …
Christopher erreichte den Arbeitstrakt des Kardinals, wo zwei Wachmänner vor einer breiten Tür aus poliertem Mahagoni den Weg versperrten. Sie trugen Anzüge und Headsets, stets über Funk mit ihren Kollegen verbunden, und waren mit Maschinenpistolen bewaffnet. Sie hatten ihn längst bemerkt und mit ihren Blicken durchbohrt. Er wusste, dass sie ihn erkannt hatten. Andernfalls hätten sie bereits die MPis in Anschlag gebracht. So aber ließen sie ihn passieren, ohne sich länger mit ihm aufzuhalten.
Christopher war das nur recht – je schneller er die Sache hinter sich brachte, desto schneller konnte er Rom wieder verlassen. Er trat an den beiden Wachen vorbei in den Korridor und aktivierte die Ruftaste vor der Tür zum Vorzimmer des Kardinals. Das grüne Licht darüber brannte sofort, offenbar hatten die Wächter Matthäus bereits über seine Ankunft informiert. Er trat ein.
Die beiden Agenten aus dem Vorzimmer des Kardinals glichen |11|sich wie ein Ei dem anderen. Beide trugen weiße Hemden mit Schweißflecken unter den Achseln und dicke Pistolen in Schulterhalftern, ihr Haar war militärisch kurz geschnitten, ihre Gesichter waren glatt rasiert. Man sagte den beiden Zwillingen eine große Zukunft voraus, wenn sie ihre ersten Missionen bekamen, doch Christopher hielt sie für zu phantasielos für den Außendienst.
»Inquisitor Christopher«, meldete er, »zurück aus Norwegen und Deutschland.«
Einer der beiden hielt kurz inne mit seinem stupiden Kaugummikauen. »Wie war’s?« fragte er, und, als Christopher nicht gleich antwortete, »alles glatt gelaufen?«
»Kann ich rein?«, fragte Christopher.
Ein Schatten huschte kurz über das Gesicht des Agenten als er keine Antwort bekam. »Ja«, sagte er dann, »Sie werden erwartet.«
Christopher wandte sich zur Bürotür des Kardinals und trat nach kurzem Klopfen ein.
Matthäus’ Arbeitszimmer war geschmackvoll eingerichtet, mit holzgetäfelten Wänden, Möbeln aus Mahagoni und weich gepolsterten Ledersesseln. Aus den hinter großen Zimmerpflanzen versteckten Lautsprechern quoll gedämpft gregorianische Kirchenmusik, die zu den weniger anrüchigen Leidenschaften des höchsten Inquisitors gehörte. Auf seinem Schreibtisch standen Tastatur und Flachbildschirm des darunter verborgenen Rechners, eine Telefonanlage sowie ein Stapel Papiere. Es wirkte unaufgeräumter als sonst.
Kardinal Matthäus war ein Mann Anfang Sechzig, mit kantigem, glatt rasiertem Gesicht und ernst gescheiteltem grauen Haar. Er trug eine schwarze Anzugshose mit einem weißen Hemd. Die purpurne Krawatte um seinen Hals war der einzige Hinweis auf seine Zugehörigkeit zur Inquisition.
»Christopher.« Der Kardinal stand auf, trat ihm entgegen und reichte ihm die Hand.
»Eure Eminenz«, erwiderte Christopher, nachdem er sich über den Kardinalsring gebeugt hatte.
|12|»Setz dich, Christopher.« Matthäus ging zurück hinter seinen Schreibtisch und ließ sich in den Sessel sinken. »Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«
»Danke.« Er schüttelte den Kopf und setzte sich ebenfalls.
Der Kardinal ließ sich über die Sprechanlage ein Wasser kommen. Sie schwiegen, bis einer der Zwillinge Glas und Flasche auf dem Schreibtisch abgestellt hatte und wieder gegangen war.
»Nun, Christopher«, fragte Matthäus, als sich die Tür hinter dem Agenten geschlossen hatte, »wie ist es dir ergangen? Wir haben lange nicht mehr gesprochen. Deinen Bericht aus dem Kosovo habe ich gelesen. Was ist mit Maria?«
»Sie hat sich noch nicht zurückgemeldet?« Er ließ sich nichts anmerken, aber tatsächlich traf ihn die Nachricht mehr, als er erwartet hätte.
»Nein. Meine Berichte sagen, dass sie kurz in Trondheim gesehen wurde, offenbar, um sich mit dir zu treffen, aber seitdem ist sie verschwunden.«
Christopher nickte.
Maria hätte nicht in Norwegen auftauchen dürfen. Ihr Auftrag war es gewesen, die Mission auf dem Kosovo abzuschließen und sich dann direkt bei einem Kontaktmann in Rom zurückzumelden. Der Kosovo war beinahe abgeschlossen gewesen, sie hatten das Netzwerk der Schatten nahezu vollständig analysiert und waren bereit gewesen, sie zu eliminieren. Eine Aufgabe, die Maria auch selbstständig hätte lösen können. Niemand wusste, ob sie das getan hatte. Sie war seit ihrem Besuch in Norwegen verschwunden.
»Wenn wir sie finden«, erklärte Matthäus, »muss sie zum Schweigen gebracht werden.«
Christopher nickte noch einmal. Ihr Verschwinden war ein deutliches Anzeichen dafür, dass sie den Konzern verraten hatte. Es gab nur eine Strafe für Verräter der Inquisition.
»Erzähle mir mehr über Norwegen.«
»Otta war ein Fehlschlag«, begann Christopher ohne Umschweife. |13|»Die drei anderen Aufträge habe ich, soweit es mir möglich war, ausgeführt.«
»Dieser Heidenpriester lebt also noch immer?«
»Ja, Eure Eminenz. Der Keltenkult ist dort so weit fortgeschritten, dass er nicht mehr durch den Tod einer Einzelperson zu stoppen ist – im Gegenteil: Der Priester ist so angesehen, dass er zum Märtyrer wird, wenn er bei einem Anschlag ums Leben kommen würde. Einen Unfall vorzutäuschen hätte mehr Zeit in Anspruch genommen, als ich zur Verfügung hatte.«
»Ja …« Matthäus nickte nachdenklich, während er seine Lesebrille aus einer Schublade zog und sie bereit legte. »Und was ist mit dem Rest?«
Christopher ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Eigentlich hätte er nicht erwartet, so glimpflich davonzukommen. Er hatte zwar bisher noch nie versagt, aber er kannte Geschichten von anderen Inquisitoren. Eine Züchtigung war das Mindeste, womit er gerechnet hätte. Doch Matthäus’ Gedanken waren woanders, bei den Städten, der zweiten Hälfte seiner Mission.
»Die Städte«, fuhr er in seinem Bericht fort, »sind Pulverfässer, denen nur noch ein kleiner Funken zum Ausbruch fehlt. Bergen steht ein Krieg zwischen Renegaten und Schatten bevor. Hamburg erhält Menschentransporte aus Afrika. Berlin befindet sich am Rande eines Volksaufstandes.«
Nach einer kurzen Pause setzte Matthäus die Brille auf und ergriff Schreibblock und Papier. »Erzähl mir mehr davon.«
»Vor Bergen wurde letzte Woche ein gesunkener Frachter aus dem Sund gezogen, bis an den Rand gefüllt mit ertrunkenen Illegalen aus Somalia. Ich habe die Sache ein wenig weiter verfolgt und zwei Dinge herausgefunden. Zum einen wurden diese Transporte inzwischen umgeleitet, sie gehen nicht mehr nach Bergen, sondern nach Hamburg. Zum anderen dürften in den letzten zwei oder drei Jahren in Bergen selbst ungefähr zwanzig- bis dreißigtausend Menschen verschwunden sein. Ich gehe davon aus, dass der größte Teil davon von den Schatten in die Innenwelt gebracht |14|wurde.« Er hielt kurz inne, etwas irritiert davon, dass der Kardinal nicht wie sonst mitschrieb. »Die örtlichen Renegaten bereiten sich auf eine Eskalation vor und bringen Sprengstoffexperten und andere Spezialisten in die Stadt.«
»Hast du heute schon Nachrichten gehört?«
»Nein.«
»Es sieht so aus, als ob die Renegaten das Pulverfass bereits gezündet hätten. In der Nacht hat es in der Unterwelt Bergens zeitgleich drei Sprengstoffanschläge gegeben, zusätzlich Schießereien an mehreren Stellen der Stadt. Die Polizei spricht von einem eskalierten Bandenkrieg.«
Christopher schüttelte den Kopf. »Renegaten. Ganz sicher.«
»Berlin werden wir verlieren«, erklärte Matthäus. Er war wirklich nicht er selbst. Christopher hatte noch nie erlebt, dass der Kardinal solche Informationen preisgab, wenn es nicht die nächste Mission betraf. Und es klang im Moment nicht so, als ob ihn seine nächste Mission nach Berlin bringen würde …
»Was bleibt, ist Hamburg«, fuhr der Kardinal fort und bestätigte Christophers Überlegung. »Wenn wir eine Chance haben, unseren Einfluss nicht zu verlieren, dann dort.«
»Also Hamburg«, schloss Christopher. »Werde ich alleine gehen?«
»Aber Christopher … niemand hat gesagt, dass du nach Hamburg sollst. Ganz im Gegenteil! Du gehst nach Somalia.«
Nach innen war Christopher überrascht, auch wenn er es nach außen nicht zeigte. Afrika? Das war ein heißes Gelände. Es gab kaum Informationen, und außerdem trieben sich dort Agenten des Islams herum. Es gab zwar keinen offenen Krieg zwischen den Weltreligionen, aber die Möglichkeit, einen fremden Agenten auszuschalten, wurde gerne wahrgenommen. Auch die Übernatürlichen waren in Afrika gefährlicher: Die afrikanischen Stämme waren wilder und ruheloser als die europäischen, in den großen Städten gab es Schatten und Ratten im Überfluss.
Und dann ausgerechnet Somalia. Bitterer Bürgerkrieg seit fast |15|einem Jahrzehnt. Ob die Einheimischen dort schon vergessen hatten, was vor sechs Jahren zwischen ihnen und den Amerikanern vorgefallen war? Und ob sie die Erfahrungen auch auf Weiße anderer Nationalitäten übertragen würden?
Du bist ein Profi, beruhigte er sich.
»Wann?«
»So schnell wie möglich. Johannes hat dir ein Paket zusammengestellt.«
Christopher stand auf. »Dann mache ich mich auf den Weg. Was ist mit Maria?«
»Du gehst alleine. Die Zeit reicht nicht, einen Ersatz für deine Agentin zu suchen. Um Maria kümmern wir uns.«
»Eure Eminenz.« Noch einmal erhob er sich zum Gehen.
»Viel Erfolg, Inquisitor. Und möge Gott mit dir sein.«
Nachdenklich verließ Christopher die Katakomben.
Christophers Hotel lag in der Via Giovanni da Empoli im Stadtviertel Testaccio, etwa eine halbe Stunde vom Vatikan entfernt. Wie üblich waren die Straßen auf dem Weg dorthin vollgestopft mit hupenden Fiats und stinkenden Mofas. Überall am Straßenrand priesen fliegende Händler lautstark ihre Ware an, während ganze Schwärme von Taschendieben nach leichtfertigen Touristen Ausschau hielten.
Sein T-Shirt klebte an seinem Körper, als er schließlich den Eingang des Hotel Primus erreichte. Drei Sterne hatte der Besitzer darüber gehängt, mindestens einen zu viel, wenn es nach Christopher ging. Immerhin war das Personal verschwiegen und zurückhaltend, was der Inquisitor sehr schätzte. Er wusste, dass er ein begehrter Mann war. Er hatte Feinde. In acht europäischen Staaten hatte er bisher getötet, alles im Auftrag der Kirche. Nicht immer war er unentdeckt geblieben. Es gab genügend Menschen, die sein Gesicht kannten, ein paar wenige wussten sogar, dass er für die Kirche arbeitete. Über seine Spione hatte er erfahren, dass zwei von ihnen in Rom nach ihm suchen ließen.
|16|Und das waren nur seine Feinde außerhalb der Kirche. Der Vatikan selbst mit seinen Sünden und Intrigen war noch eine viel größere Gefahr. Es gab Kardinäle, die Matthäus für seine Arbeit für die Inquisition hassten, es gab andere, die seine Stelle begehrten. Wie viele davon würden davor zurückschrecken, einen seiner Inquisitoren zu erpressen oder gar zu foltern, um an Informationen zu gelangen, mit denen sich Matthäus selbst unter Druck setzen ließe? Welcher von Christophers sieben verbliebenen Agenten war ehrgeizig genug, ihn zu töten, um an seinen Posten zu gelangen? Und natürlich gab es Kollegen, andere Inquisitoren, die ihm seine Erfolge neideten oder ihn dafür hassten, dass Matthäus ihre Aufträge an ihn weiterleitete, wenn sie nicht vorankamen.
Der Portier, ein kleiner Mann mit Halbglatze, verschwitztem Hemd und dickem Bauch, gab ihm mit einem freundlichen Gruß den Zimmerschlüssel. Christopher eilte nach oben und beobachtete durch die Vorhänge im Treppenhaus hindurch eine Weile die Straße, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand gefolgt war. Dann erst ging er zu seinem Zimmer im dritten Stock, das letzte im Korridor auf der rechten Seite.
Dort beugte er sich zu Boden, um sich zu vergewissern, dass sein Siegel noch unbeschädigt war. Es war ein Haar, mit Sekundenkleber zwischen Türrahmen und Tür gespannt, praktisch unsichtbar und nicht zu bemerken, wenn man nicht wusste, nach was man suchte. Es war noch dort. Leise steckte er den Schlüssel in das Schloss und öffnete die Tür.
In dem kurzen Gang, von dem Schlafzimmer und Bad abgingen, zog er seine SIG und verschloss die Tür hinter sich. Mit der Pistole im Anschlag warf er einen Blick in das Badezimmer, bevor er das Schlafzimmer betrat. Alles schien so, wie er es am Morgen hinterlassen hatte. Doch Christophers Job brachte eine gewisse Paranoia mit sich, so dass er sich erst entspannte, nachdem er sich auch vergewissert hatte, dass auch die Siegel an den Fenstern noch intakt waren. Nachdem er die Pistole auf den Tisch gelegt hatte, zog er das verschwitzte T-Shirt aus, schlüpfte aus Stiefeln und Socken |17|und nahm ein Bier aus dem Kühlschrank. Müde ließ er sich auf sein Bett sinken, legte die Beine auf den Tisch und schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher ein. Fünf Minuten lang gaffte er irgendwelche brutalen Trickfilme, bei denen sich Comictiere gegenseitig in ihre Bestandteile zerprügelten, bevor es ihm zu dumm wurde und er weiterschaltete.
Die Tür des Badezimmers sprang auf. Noch bevor er zu seiner Waffe greifen konnte, war die Mündung einer Pistole auf ihn gerichtet. »Keine Bewegung!«, stieß die Frau dahinter aus.
Christopher erstarrte. In Sekundenbruchteilen hatte er erkannt, dass er die Pistole nicht rechtzeitig erreichen würde. Zu viel Zeit, in der sie schießen konnte. Und sie würde schießen. Ganz langsam hob er seine Hände nach oben und ließ sich zurück auf das Bett sinken.
»Hallo, Maria.«
»Hallo, Christopher.« Vorsichtig, die Pistole weiter auf ihn gerichtet, trat sie an den Tisch und nahm die SIG an sich. Sie steckte sie in ihren Hosenbund und setzte sich ihm gegenüber auf den kleinen Sessel. Sie trug weite, weiße Sommerhosen, ein hellblaues T-Shirt und Sandalen, ihre braunen langen Haare waren gelockt und gepflegt. Ihr sonnengebräuntes Gesicht war ungeschminkt, doch Maria hatte das noch nie nötig gehabt. Ihre großen braunen Augen, die vollen Lippen und ihre geschwungenen Wangenknochen machten sie auch ohne Schminke schön. »Hör auf, mich so anzusehen, Christopher!«, forderte sie barsch.
Er zuckte mit den Schultern und sah zur Decke. »Was willst du?«
»Als erstes deine Hosen.«
Christopher brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten. »Was?«
»Deine Hosen. Solange du noch etwas anhast, weiß ich nicht, ob du nicht doch noch eine Waffe an dir hast.«
»Du weißt, dass ich nur eine Pistole trage!«
Nun war es an ihr, mit den Schultern zu zucken. »Die Zeiten ändern sich.«
|18|Schicksalsergeben stand Christopher auf und schlüpfte aus seiner Jeans. Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Ihre kalte Miene war Aufforderung genug, und so schlüpfte er auch aus seiner Unterhose. Splitternackt setzte er sich wieder auf sein Bett. Er fühlte sich bescheuert, und das ärgerte ihn. Sie hatte es geschafft, ihm die Konzentration zu nehmen. Er hatte sie gut trainiert. »Kann ich jetzt wenigstens die Hände runternehmen?«, fragte er.
»Ja. Aber eine falsche Bewegung und du bist tot, Christopher.«
Er nickte. Er glaubte ihr. Langsam ließ er seine Arme neben sich auf das Bett sinken.
»Du hast einen riesigen Fehler gemacht«, erklärte er ihr.
»Nicht nur einen«, gab sie zurück. »Aber ich bin der festen Überzeugung, dass das hier kein Fehler ist. Es ist der erste Schritt, meine Fehler wiedergutzumachen.«
»Wie willst du etwas wiedergutmachen, wenn du tot bist?«
»Hat der Kardinal dir den Auftrag zu geben, mich umzubringen?«
»Natürlich nicht. Er weiß von unserer Affäre. Er ist nicht dumm.«
»Würdest du mich verraten?«
Christopher verdrehte die Augen. »Du kennst die Antwort.« Und sie lautete nein. Sein eigener, kleiner Verrat an der Kirche. Er liebte sie immer noch, auch wenn zwischen ihnen schon seit einem Jahr nichts mehr lief. Er wunderte sich bloß, ob sie ihm das glaubte. Wenn nicht, würde sie ihn erschießen. Er wollte nicht sterben. Nicht so. »Aber sie werden dich trotzdem finden, früher oder später. Du darfst sie nicht unterschätzen!«
»Was ich von dir will«, erklärte sie, entschlossen das Thema wechselnd, »sind Informationen.«
Christopher seufzte. »Welche?«
»Alle.«
»Du erwartest, dass ich die größten Geheimnisse der Kirche ausplaudere, nur weil du eine Pistole in meine Richtung hältst?«
»Nein. Wenn du mir nichts erzählst, behaupte ich bei deinen |19|Kollegen, dass du mir zuviel erzählt hast.« Ihre Stimme war kalt. Sie war entschlossen, daran bestand kein Zweifel.
Christopher dachte intensiv nach, bevor er antwortete. Wenn seine »Kollegen« ihr glaubten, würden sie ihn ohne Zweifel bei Matthäus anklagen. Das würde ihn seinen Kopf kosten, und zwar im genauen Sinne des Wortlauts. Aber würden sie ihr glauben? Was wusste Maria, das sie nicht wissen durfte? Hatte er ihr etwa schon zu viel erzählt, in der Zeit, in der sie ein Paar gewesen waren?
»Warum?«, fragte er, um mehr Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. »Bist du ein Spion? Bist du zu einem anderen Inquisitor übergelaufen?« Er traute es ihr nicht zu, dazu kannte er sie zu gut, aber es würde sie ablenken. Und die beste Ablenkung waren Emotionen. »Gehst du mit ihm auch ins Bett?«, legte er deshalb noch nach. Er wusste, dass er sie damit verletzte. Er wollte es nicht, aber er musste jeden Vorteil nutzen, den er kriegen konnte. Ablenkung bedeutete Fehler. Maria hatte bisher keinen gemacht.
»Nein«, antwortete sie ruhig. Sie hatte sich gut unter Kontrolle. Er hatte trotzdem das Zucken bemerkt, das kurz durch ihr Gesicht gelaufen war. »Ich will nur endlich wissen, worum es geht.«
»Worum es geht?« Er stellte sich dumm.
»Es, ja. Die Arbeit, die wir machen. Der Krieg gegen die Ketzer. Es steckt mehr dahinter, als es den Anschein macht. Viel mehr.«
»Wie kommst du darauf?«
»Sie bekämpfen sich gegenseitig, das habe ich nun schon mehrfach erlebt. Es sind nicht einfach die Ketzer. Sie haben Parteien und kämpfen für verschiedene Ziele. Und ich glaube, dass sie nicht alle schlecht sind.«
»Was genau hast du erlebt?«
»Hör auf damit! Ich stelle hier die Fragen!«
Christopher nickte. Er hatte nicht damit gerechnet, viel mehr aus ihr herauszubekommen. »Fang an.«
»Was weißt du über Phantome?«
Diese Frage überraschte ihn nun doch. »Wo hast du denn davon gehört?«
|20|»In Norwegen. Du weißt, dass ich dort nach dir gesucht habe?«
»Ja.«
»Nun, in Trondheim bin ich über einen Ketzer gestolpert, während ich auf den Kontaktmann gewartet habe. Es war reiner Zufall. Er kam mit einem Bus aus den Hügeln, sprach einen fürchterlichen Akzent und fragte einen Mann neben mir, ob er ihm den Fahrplan erklären könnte.«
»Hätte auch einfach jemand sein können, der etwas zurückgezogen lebt.«
»Nein. Er hatte sooo breite Schultern.« Sie deutete kurz mit den Händen an, wie breit sie waren. Zum ersten Mal war die Pistole für einen Moment nicht auf ihn gerichtet. Sie entspannte sich langsam. Ein gutes Zeichen. »Und mein Instinkt sagte mir, dass ich recht hatte. Nun, ich dachte mir, wenn ich dich schon nicht finde, um Antworten zu erhalten, kann ich vielleicht ihn danach fragen, also bin ich ihm zusammen mit Marten gefolgt. Er nahm den Bus in Richtung Åndalsnes. Bei Kleive wurden wir dann angegriffen.«
»Wovon?«
»Etwas Riesigem. Es hat den Bus von der Straße gefegt, als ob es Spielzeug gewesen wäre, und anschließend damit begonnen, die Insassen umzubringen. Der Ketzer und ich sind zum Glück bei dem Unfall aus dem Bus geschleudert worden, sonst hätte es uns wahrscheinlich ebenfalls getötet. Ich habe ihn beobachtet, wie er zurück ist und sich dem Ding gestellt hat. Sie haben gekämpft, er mit einem winzigen Dolch, gegen dieses Phantom, eine Schlange einen Meter im Durchmesser, vielleicht zwanzig lang. Ich bin davon. Oben auf der Straße sammelte mich Tom auf. Als der Ketzer aus dem Wald kam, haben wir ihn mitgenommen.«
»Und? Was hast du von ihm erfahren?«
Maria verzog das Gesicht. »Nichts.«
»Nichts?«
»Nein. Ich war zu schockiert, um ihm Fragen zu stellen. Er hieß Ronan, so viel weiß ich immerhin. Und es war ein Phantom.« Ihre Miene verfinsterte sich plötzlich, als sie bemerkte, dass schon wieder |21|er die Fragen stellte und nicht sie. »Ich sagte gerade schon, dass du aufhören sollst damit! Ich möchte wissen: Wer sind die Parteien? Wofür kämpfen sie? Und was ist die Rolle der Kirche bei alledem?«
Christopher musste nicht mehr lange nachdenken. Er hatte inzwischen genügend Informationen gesammelt. Maria würde ihn nicht verraten. Sie hatte auch nicht vor, zur Kirche zurückzukehren. Sie stand kurz davor, einen persönlichen Feldzug gegen das Böse anzutreten. Sie brauchte seine Informationen, um zu entscheiden, wer für sie das Böse war. Wenn sie diese Information hatte, würde sie losziehen und kämpfen. Die Kirche hatte nichts von ihr zu befürchten. Und somit beschloss er, ihre Fragen zu beantworten. Es war sein Todesurteil, sollte sie jemals in die Fänge seiner Kollegen geraten. Aber er liebte sie immer noch.
»Es gibt drei große Parteien«, begann er. »Die eine Partei sind die Schatten, teuflische Kreaturen, die nicht von dieser Welt stammen. Sie sind sadistisch, gewalttätig und aggressiv, besitzen magische Kräfte und kämpfen um so etwas wie die Weltherrschaft. Die Zelle auf dem Kosovo, das waren Schatten. Ihre Gefolgsleute sind die Rattenmenschen, denen wir in Sarajevo begegnet sind. Sie entführen große Menschenmengen, um sie in die Innenwelt zu bringen.«
»Ist das wirklich eine Parallelwelt?«
Christopher zuckte mit den Schultern. »Genau weiß das keiner. Außer Schatten und Hexern ist von dort noch niemand zurückgekehrt.«
»Hexer?«
»Hexer sind die zweite Partei. Soviel ich weiß, leben sie in der Innenwelt in einer Art Stammeskultur. Sie sind Erzfeinde der Schatten und versuchen eher, den menschlichen Fortschritt aufzuhalten und die Natur zu schützen. Noch vor sechzig Jahren haben sie Forscher getötet und Universitäten in die Luft gejagt. Außerdem hassen sie die Kirche, aus welchem Grund auch immer. Angeblich stört unsere Religion ihre Magie.«
»Was war vor sechzig Jahren?«
|22|»Der Zweite Weltkrieg.«
Maria verdrehte die Augen. »Wirklich?«
»Immer mit der Ruhe«, beschwichtigte Christopher. »Der Zweite Weltkrieg war mehr als nur das, was in den Geschichtsbüchern steht. Die Hexer nennen ihn den Letzten Germanenkrieg. Damals sind sich in der Innenwelt die Hexer der Germanen und einer Allianz der anderen gegenseitig an die Gurgel gegangen. Die Germanen existieren seitdem nicht mehr, und der Rest ist sehr geschwächt. Momentan haben sie ihre Hände voll damit, die Schatten in Zaum zu halten, und lassen die Kirche größtenteils in Ruhe.«
»Und die Phantome?«
»Phantome sind böse Geister. Geister der Schatten. Sie sind selten hier in unserer Außenwelt, und wenn, dann selten von besonderer Macht. Was du beschreibst, ist ungeheuerlich stark für ein Phantom.«
»Also war dieser Ronan ein Hexer«, dachte sie laut nach. »Und Veronika wahrscheinlich auch …«
»Veronika?«
»Veronika Wagner. Du hast bestimmt von ihr gehört.«
»Ja.« Noch vor ein paar Wochen hatte der Name sämtliche Schlagzeilen gefüllt. Eine deutsche Offizierin, die auf dem Kosovo einem ihrer Männer den Kopf abgeschnitten hatte. »Du bist ihr begegnet?«
Maria nickte. »Ich war es, die ihr den Tipp gegeben hat, ihm den Kopf abzuschneiden. Er war ein Kontaktmann der Zelle und wahrscheinlich ein Schatten, wenn ich mir das so überlege.« Für eine kurze Zeit schwieg sie nachdenklich. »Es kam mir so vor, als ob sie selbst nicht wusste, was sie war. Als ob sie noch ahnungsloser war als ich. Ist das möglich?«
»Ja. Soviel wir wissen, kann jeder Mensch zu einem Hexer werden. Die Stämme suchen die Außenwelt ständig nach jungen Hexern ab, aber manchmal übersehen sie welche. Außerdem gibt es Leute, die ein paar magische Fähigkeiten haben, ohne Hexer zu |23|sein. Sie nennen sie Talente. Die fallen offenbar weniger auf und werden deshalb seltener entdeckt.«
»Und die Kirche? Was ist die Rolle der Kirche bei alledem?«
»Wir jagen alles, was übernatürlich ist. Die Schatten sind böse, und die Hexer sind unsere Feinde.«
»Was? Das ist alles?« Maria schien es nicht fassen zu können.
Christopher zuckte mit den Schultern.
»Hast du schon mal daran gedacht, dass diese Schatten höchstwahrscheinlich viel gefährlicher sind als die Hexer? Vielleicht können wir uns mit den Hexern verbünden!«
Einhunderttausend Mal bereits, dachte er. Doch das sagte er nicht »Ich bin nur ein Inquisitor, Maria. Die Kurie entscheidet über Politik. Ich erledige bloß meinen Job.«
Sie schnaubte. »Ja. Ohne Bedenken und Gewissen. Ein perfekter Killer.«
Er gab ihr keine Antwort. Sie brauchte ein paar Augenblicke, um das zu realisieren. »Was ist deine nächste Mission?«, fragte sie schließlich.
»Somalia. Vielleicht freut es dich zu hören, dass ich dort gegen die Schatten operieren werde. Und du? Was wirst du tun?«
»Ich weiß es noch nicht … Ich glaube, als Erstes werde ich versuchen, Veronika aus dem Gefängnis zu holen. Ich kann das, was ich vorhabe, nicht alleine machen. Und wenn sie tatsächlich eine Hexerin ist, hat sie vielleicht Kräfte, die mir helfen könnten.«
Christopher nickte. Noch einmal schwiegen sie sich an. »Darf ich mich wieder anziehen?«, fragte er schließlich.
Sie zog kurz die Augenbrauen nach oben. »Nein. Damit wartest du schön, bis ich hier weg bin.« Sie stand auf und ging zur Tür.
»Meine SIG«, erinnerte er sie.
»Die werfe ich in den Mülleimer am zweiten Treppenabsatz.
« Er nickte. Sie sperrte die Tür auf. Ihre Pistole steckte sie erst dann in ihre Jacke, als sie nach draußen trat.
»Viel Glück«, rief er ihr hinterher.
Sie konnte es brauchen …