Wolfgang Engler
Bürger, ohne Arbeit
Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft
Mit einem Photo von Stefan Moses
ISBN E-Pub 978-3-8412-0054-9
ISBN PDF 978-3-8412-2054-7
ISBN Printausgabe 978-3-7466-7057-7
Aufbau Digital, veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2010
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Erstausgabe erschien 2005 bei Aufbau
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Vorwort
Die Köchin
Vom Arbeiter, vom Bürger und vom Menschen
§ 1 Arbeit als kulturelles Phänomen
§ 2 Die Arbeitenden: notwendig, aber nicht dazugehörig
§ 3 Befreiung von der Arbeit, Befreiung in der Arbeit
§ 4 Der Arbeitsglaube und seine Entzauberung
§ 5 Vom Elend des Animal laborans
§ 6 Die Spinne Arbeit
§ 7 Postfordismus: neue Freiheit in der Arbeit?
§ 8 Pro und kontra André Gorz
§ 9 Der Dritte; ICH und Ich
§ 10 Die umzingelte Lohnarbeit
§ 11 Vom Angestelltsein
§ 12 Arbeit, weiter gefaßt
§ 13 Eigentum als soziale Architektur
Der Grund der Existenz
§ 14 Verlorene Jahre
§ 15 Grundeinkommen: Variationen eines Themas
§ 16 »Gesetzliche Nächstenliebe« als allgemeines Unglück
§ 17 Der »Bürger« des Bürgergeldes
§ 18 Arbeiten, Handeln, Tätigsein
Die neue soziale Frage
§ 19 Gute Arme, schlechte Arme
§ 20 Die Armut der Moral
§ 21 Die Entdeckung des Kollektivs
§ 22 Blüte und Niedergang der Lohnarbeitsgesellschaft
§ 23 Sackgassen, Auswege
Die gestohlene Reform
§ 24 Konservatismus und Traditionalismus
§ 25 Zur Vorgeschichte des sozialen Reformismus
§ 26 Konservative Familienstreitigkeiten
§ 27 »Skepsis und Zuversicht«
§ 28 Pragmatismus oder Prinzipienlosigkeit?
§ 29 Konservative Staatsversessenheit
§ 30 Rückwertung der Werte
§ 31 Staatshaß und Bürgersinn; das Leben als Melodram
§ 32 Patriotismus der Anpassung
§ 33 Von der Ausgabenökonomie zur Einnahmenökonomie
§ 34 Zweierlei Reform
Politische Chirurgie oder Gleichheit als Geschwür der Gerechtigkeit
§ 35 Chancen
§ 36 Teilhabe
§ 37 Von der Gleichheit zum Respekt
§ 38 Gerechtfertigte Unterschiede
§ 39 Soziale Vererbung
Staatsbürger. Kunde. Produzent
§ 40 Produktivität
§ 41 Postfordismus: Grenzen eines Konzepts
§ 42 Ein Gedankenexperiment
§ 43 Konsumtion als Bürgerpflicht
§ 44 Dr. Sinns »eingerechnete« Arbeitsersparnis (nach Art eines Satyrspiels)
§ 45 Produzieren: Jenseits von Kapital und Arbeit
Anmerkungen
Verwendete Literatur
Für Anna, wie immer
In einem Gedicht von Goethe aus dem Jahr 1797, Der Schatzgräber, schleppt sich ein alter Mann durch seine langen Tage. »Arm am Beutel, krank am Herzen«, sehnt er sich wie viele seinesgleichen danach, Reichtum ohne Mühe zu erwerben und frei von Sorgen zu genießen. Seine Schmerzen zu beenden, bricht er auf, einen alten Schatz zu heben, von dem die Erzählungen der Altvordern seit Generationen berichten. Am magischen Ort eingetroffen, schlägt er Kreise, trägt Kraut und Knochenwerk zusammen und entzündet Flammen. Sollte sich unter den Geistern, die er beschwört, just der Teufel einfinden, er ist bereit, ihm seine Seele zu verkaufen. Doch dann erscheint ein schöner Knabe, bekränzt mit Blumen, und in den Händen hält er einen Himmelstrank. Den reicht er dem Alten und knüpft an diese Geste eine kleine Rede an:
Trinke Mut des reinen Lebens!
Dann verstehst du die Belehrung,
Kommst mit ängstlicher Beschwörung
Nicht zurück an diesen Ort.
Grabe hier nicht mehr vergebens!
Tages Arbeit, abends Gäste!
Saure Wochen, frohe Feste!
Sei dein künftig Zauberwort.
Der Zauber, der hier auf der Arbeit liegt, ist sichtlich von dem, was nach ihr kommt, geborgt: von der Arbeitsruhe, der Geselligkeit, dem Feiern mit Freunden und Vertrauten. Wie alles Geborgte, verlangen auch diese kostbaren Momente des entspannten Lebens nach Rückerstattung, nach erneuter Anspannung der Kräfte, nach werktätigem Dasein. Arbeit ist nicht das ganze Leben, aber ein Leben ohne Arbeit, das ist nicht feierlich.
»Tages Arbeit, abends Gäste! / Saure Wochen, frohe Feste!« – für einen vom Schicksal gebeugten Mann an der Schwelle zum Greisenalter sind das in unseren Ohren nicht die passenden Worte. Die Arbeit, der man selbst enthoben ist, zu preisen hat immer etwas Schiefes, Herablassendes, da fügt sich Goethe nahtlos in die Tradition der gebildeten, sozial gehobenen Stände ein. Auch zeigt er sich um ausreichende Gelegenheit zur Arbeit unbesorgt. Wer Arbeit sucht, der wird auch Arbeit finden, das war wohl seine Ansicht. Und nur wer Arbeit leistet, gewinnt sein Leben auf die rechte Art, stellt sich ernsthaft in die Welt hinein, auf festen Grund; da folgen wir ihm wieder.
Den Schmerz begreiflich zu machen, der dem Verlust der Arbeit noch immer innewohnt, bildet den Ausgangspunkt dieser Untersuchung. In Arbeitsgesellschaften wie den unseren büßen Menschen, die ihre Arbeit verlieren oder keine Arbeit finden, die Kontrolle über ihr Leben ein, mögen sich ihre materiellen Lebensumstände, äußerlich gesehen, auch erträglich gestalten. »Abends Gäste, frohe Feste« – nach des Tages erlittenem Müßiggang? Wie gliedert sich ein Leben, dem der Ernst versagt bleibt? Wie schafft es aus sich selbst heraus Zäsuren, Antriebe, Weltbezüge? Wie unterscheidet es zwischen »wichtig« und »unwichtig«, »zuerst« und »später«, wenn das, was jetzt geschehen könnte, weder Not noch Eile hat? Leben ist Strebung, Richtung, Richtungslosigkeit bedeutet Tod. Oft genug ist »arbeitslos« nur die Kurzform für die richtungslose Drift des Lebens. Und für ein Leben ohne Selbstrespekt und Anerkennung.
»Bürger ohne Arbeit«, das wäre eine bloße Tatsachenfeststellung, die, so betrüblich sie auch klingt, dem Denken wenig Nahrung gibt. So ist es, leider, in allzu vielen Fällen. »Bürger, ohne Arbeit« setzt eine kurze Pause, lang genug, um einzuhalten. Bezweifelt, was auf das Komma folgt, nicht das, was vor ihm steht? Ist der Bürger ohne Arbeit ein vollwertiger Bürger? Liest er in den Augen anderer nicht einen Vorwurf, den er notgedrungen teilt? Den Hinweis auf sich selbst als Mängelwesen, als Torso eines ordentlichen Menschen? »Bürger, ohne Arbeit«, das ist ein strenges Urteil, ist Leben in Gefahr und unter Vorbehalt. Das Ansehen und die Rechte, die der Bürger genießt, genießt er ungeschmälert nur als arbeitsames Wesen.
Es gibt einen Satz, der die Weltanschauung der Lohnarbeitsgesellschaft wie kein anderer zusammenfaßt: »Jede Arbeit ist besser als keine Arbeit!« Diesen Satz anzugreifen, die Ideologie, die auf ihm aufbaut, zum Einsturz zu bringen bildete das Motiv zu diesem Buch. Es hat seinen Zweck erfüllt, wenn die besinnungslose Rede, die den Bürger und den Menschen, mir nichts, dir nichts, unter den Arbeiter knechtet, künftig zumindest öffentlich stockt.
Ratschläge zur Lektüre wüßte ich dem mündigen Leser nicht zu geben, einen vielleicht ausgenommen. Das erste Kapitel rückt eine Köchin aus dem Osten Deutschlands, aus Cottbus, in den Blickpunkt. Dieser Lebensumstand färbt auf die Haltung, die sie vermittelt, merklich ab. Im essentiellen Sinn ist das, was sie zu »sagen« hat, so wenig ostdeutsch wie ihre Profession. Das gilt für sämtliche Passagen, die auf diesen Landstrich und seine Bewohner Rücksicht nehmen. Von einem Ostdeutschen geschrieben, versteht sich diese Darstellung ausdrücklich nicht als Beitrag zur »Völkerkunde«.
Abschließend ist es mir ein Bedürfnis, meiner nun schon langjährigen Lektorin im Aufbau-Verlag, Maria Matschuk, für ihre in jeder Beziehung umsichtige Mitarbeit an diesem Buch zu danken. Mehr als jedes andere Vorhaben zuvor bedurfte dieses der Ausdauer auf beiden Seiten, ermutigender Kritik, und beides habe ich reichlich erfahren.
Die Köchin (Photo: Stefan Moses)
1. Wäre da nur das Gesicht – man könnte den Ausdruck der jungen Frau mißmutig nennen, eine Mischung aus Unbehagen und Lustlosigkeit. Die gesamte Erscheinung verrät, daß sie an der Inszenierung mitwirkte, deren Hauptperson sie ist. Sie gewährt dem Photographen einen freizügigen Einblick nicht nur in ihr Tagesgeschäft, und ihre herausfordernde Pose erwartet auch den späteren Betrachter. Die ganze Art, in der sie sich gibt, formuliert eine Mitteilung ohne Worte und liefert den Schlüssel zu ihrer Entzifferung gleich mit. Sie spricht zu uns durch Kontraste. Kontrast zunächst zwischen oben und unten. Bis zum Ende ihrer Schürze gewissermaßen im Dienst (als Küchenhilfe oder Köchin, wer wollte das auf Anhieb sagen?), lockt sie den herabgleitenden Blick auf eine andere Fährte. Die eleganten Schuhe, die kurzen gemusterten Strümpfe widerrufen die bis dahin dienstbereite Aufmachung. Der rechte Fuß, leicht eingedreht, flirtet mit der groben Kiste, die er sanft touchiert, und schickt das Auge wieder aufwärts. Die erotisch aufgelöste Körperspannung zitiert ein Darstellungsideal der griechischen Plastik zu Myrons und Phidias’ Zeiten, die Ponderation, löst das Zitat aber umgehend wieder auf. Der Körper ruht einzig auf dem linken Bein, das rechte, vorgeschoben, SPIELT nur Stütze, streicht die zurückgenommene, reservierte Haltung oberhalb des Körperschwerpunkts zusätzlich heraus. Die beiden Schüsseln in ihren Händen durchkreuzen diesen Grundkontrast und transformieren ihn zugleich. Sie erzählen vom Beruf auch unterhalb der Schürze, gehören aber kompositionell gesehen gar nicht in diese Vertikale. Sie bilden ein spannungsvolles Dreieck mit dem Gesichtsausdruck der Frau. Die präsentiert das Zubehör, als wäre es ihr fremd, fast peinlich; wie ein Beweisstück, das sie überführt, als Köchin oder Küchenhilfe. Sie würdigt diese unwiderruflichen Zeugnisse ihres Berufsstands keines Blickes, sieht über sie hinweg, ins Ferne. Sie legt sich sozial fest, gezwungenermaßen, doch ihre Mimik, ihre Haltung erheben überdeutlich Einspruch gegen alles Feste, Festgefahrene.
Womöglich ging der erste Eindruck nicht gänzlich in die Irre. Ein wenig unbehaglich, lustlos scheint sich die Abgebildete durchaus zu fühlen. Nur war die Ursache dafür nicht gut bestimmt, zu oberflächlich. Es ist nicht die Situation des Abgebildetwerdens, die das Unbehagen auslöst. Die Frau hat keine Scheu davor. Alles in dem Bild unterstreicht ihren subjektiven Anspruch auf öffentliche Wahrnehmung. Was ihr Sorge bereitet, ist das Mißverständnis, als Person völlig mit der sozialen Rolle identifiziert zu werden, die sie darstellt. Nicht Mißmut – MISSTRAUEN ist das angemessene Wort. Mißtrauen sich selbst gegenüber; Zweifel, ob es ihr gelang, den Abstand zwischen Person und Rolle unübersehbar genug zu gestalten; Mißtrauen gegenüber dem Betrachter, seiner Fähigkeit, aus der Haltung herauszulesen, was in sie hineingelegt wurde; Mißtrauen wohl auch gegenüber dem Photographen, seiner Geistesgegenwart, den Moment der höchsten Sichtbarkeit der Botschaft einzufangen.
Mimik, Gestik, Körpersprache – in jeder Hinsicht inszeniert sich die Köchin (folgen wir ruhig der Bildunterschrift) als eine Person mit Erwartungen an ihr Leben, die über das hinausgehen, was sie augenblicklich vorführt. Ein feiner Zug von Ironie spricht aus dem Abbild, innere Erhabenheit über sozialen Stand, Funktion und Stelle. Die Abgebildete agiert wie ein idealer Brechtscher Schauspieler, der mit seiner Rolle nicht verschmilzt, sie vielmehr vorzeigt – als eine von vielen Möglichkeiten, zu sein und sich zu wandeln. Sie beherrscht die Methode der Verfremdung intuitiv: Seht her und erkennt in mir eine Köchin (für den einfachen Geschmack, nicht für den feinen Gaumen)! Nun schaut ein zweites Mal – auf mich in dieser Rolle! Habt ihr bemerkt, daß ich mich darin nicht erschöpfe? Daß ich mich von mir selbst unterscheide und mein Beruf nur eine ungefähre Ahnung meines Wesens gibt? Müßte man den sozialen Gestus des Bildes mit einem Wort umfassen, dann wäre es die »Selbst-Abständigkeit«.
2. Eine kurze Recherche zum Entstehungszusammenhang der Photographie enthüllt den sozialen Gestus zugleich als einen historischen, historisch-besonderen. Sie entstand im geschichtlichen Transit, zwischen Umbruch und Auflösung der DDR, als Teil des Projekts »Abschied und Anfang. Ostdeutsche Porträts 1989–1990«. Mit diesem Wissen ausgestattet, ist das Selbstbewußte, Fordernde, Mißtrauische im Ausdrucksverhalten der Köchin, ihr souveränes Spiel mit Situation, Kamera und Photograph, noch klarer zu entschlüsseln. Die Köchin hat soeben einen Staat zerbrochen, einige andere waren dabei, zugestandenermaßen, aber sie war dazu nötig, und zwar nicht als Köchin. Diese Erfahrung jemals wieder zu vergessen, scheint sie nicht gewillt. Koautorin eines epochalen Ereignisses, duldet sie keine Autoritäten über sich. Daß sich ein namhafter westdeutscher Photograph für sie interessiert, erscheint ihr folgerichtig. Nur hat die Köchin, die sie auch ist, in dieser Begegnung im Grunde nichts verloren – DAS zeigt sie ihm. Und er gibt ihrer Inszenierung Raum.
»Er«, Stefan Moses, Bewahrer und Fortsetzer jener Tradition typologischer Photographie, die in Deutschland ihren ersten großen Höhepunkt im Werk von August Sander fand. Sein Kunstgriff – der neutralisierende Hintergrund eines grauen Filztuches, das die Einheit von Person und Umgebung unterbricht, die Porträtierten zur Stellungnahme gegenüber ihrer vertrauten sozialen Umwelt motiviert; eine Stellungnahme, die weit mehr einschließt als nur die Arbeit, die der- oder diejenige momentan verrichtet. Die Methode, den Wanderphotographen verpflichtet, aber auch Brechts theatraler Verfremdungstechnik, entwickelte Moses schon in den frühen sechziger Jahren, als er begann, seine, die westdeutsche Gesellschaft in der ganzen Vielfalt ihrer beruflichen und sozialen Charaktere einzufangen. In der Umbruchszeit der DDR kam dieses Verfahren ganz zu sich. Menschen, die zwischen sich und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse einen Trennungsstrich gezogen hatten, waren die berufenen Protagonisten für Moses’ technisch verfremdete Abbildungen. Historische Erfahrung und Darstellungsmethode ergänzten einander; eine Sternstunde der Geschichte zeugte eine Sternstunde der sozialen Photographie. Der glückliche politische Augenblick erhellte wie ein Blitzlicht zweierlei: das brüchig gewordene Verhältnis mündiger Menschen zu angemaßter Autorität sowie ihr sich lockerndes Verhältnis zur Arbeit, zum berufsmäßigen Erwerb.
3. »Beruf« – das Wort steht für die umfassendste und elementarste Verortung der Menschen im sozialen Raum. In Gesellschaften der uns vertrauten Art üben fast alle Menschen einen Beruf aus, und fast alle begründen dadurch ihr Leben. Der Beruf ist soziale Gerinnungsform der Arbeit, Ausdruck ihres »ernsthaften« Charakters und zugleich Leitmedium der gesellschaftlichen Anerkennung. Als indirekter Beweis für diese Behauptung kann die erste Kontaktaufnahme einander unbekannter Personen in nichtssagenden Situationen dienen. Die das Gespräch in Gang setzende Frage lautet typischerweise nicht: »Wer bist du?« oder »Wofür interessierst du dich?«, sondern: »Was arbeitest du?«, abgeschwächter: »Was machst’n du so?« Die Eigenart des Gegenüber, seine Vorlieben, Begabungen werden über die Stelle abgetastet, die er oder sie im System der gesellschaftlichen Arbeits- und Funktionsteilung innehat. Liefert die Frage die erhofften Anknüpfungspunkte für einen näheren Austausch nicht, lautet die Antwort: »Ich habe derzeit keine Arbeit« oder »Ich tue gar nichts« – und das ist zunehmend häufiger der Fall –, zeigt das verblüffte Schweigen auf eine im Grunde erwartbare Reaktion noch immer die Macht einer alten Gewohnheit. Vielleicht wird man, um Enttäuschungen, unbeabsichtigte Kränkungen gleich am Anfang zu vermeiden, für die Frage nach dem »Sein« der anderen bald neue Konventionen finden, finden müssen. Noch ist es nicht soweit. Noch behauptet sich der Beruf als Grundform der sozialen Charakterisierung eines Menschen ziemlich unangefochten, den wachsenden Ausnahmen von der Regel zum Trotz. – Dennoch unterscheidet sich der Beruf heute in vielem vom Beruf schon unserer Großeltern. Mag die Berufsbezeichnung über die Jahrzehnte hinweg unverändert geblieben sein, die BerufsBILDER, mithin die konkreten Anforderungen an die Arbeit wandelten sich im Verlauf dieser Zeit oftmals fundamental, und selbst wenn die Veränderungen weniger einschneidend waren, gab es für die jeweils später in denselben Beruf Eintretenden an Neuem immer noch genug zu lernen. Manche jener Berufe, die man vor sechzig Jahren wählte, sind verschwunden oder in anderen aufgegangen; viele der heute geläufigen Professionen existierten damals entweder noch gar nicht oder nicht in dieser Form. Möglicherweise noch gravierender sind die Veränderungen, die das subjektive VERHÄLTNIS zum Beruf betreffen, die EINSTELLUNG zur Arbeit. Hier kommt wieder die Köchin ins Spiel; nur dient sie diesmal selbst als Kontrast.
4. Das Entscheidende hat sie uns in dieser Eigenschaft schon mitgeteilt: Sie geht nicht restlos auf in ihrer Arbeit. Die demonstrative Art, in der sie den Abstand zwischen Person und sozialer Rolle markiert, erklärt sich unmittelbar aus den Verhältnissen der Zeit. Aus der Weltgeschichte ohne Umschweife in den Alltag zurückzufinden, die erhebenden Gefühle einer umstürzenden Tat gegen »Kleinkram« und Routine einzutauschen fällt naturgemäß nicht leicht. Man hat sich selbst übertroffen, überrascht, bewiesen, wozu man fähig ist – nun soll es weitergehen wie bisher? Kann die Arbeit das große Versprechen erfüllen, daß man sich und anderen soeben gab? Die Frau hat politisch etwas »angerichtet«, die Köchin bereitet nur die nächste Mahlzeit zu; daher das Trotzige im Blick, der Widerwille gegen Schematismus und Gewohnheit.
Aber das ist nicht alles. Die Zeitumstände schraffieren gleichsam das Unbehagen am beruflichen Alltag, erzeugen es indessen nicht. Arbeit und Beruf sehen sich heute mit subjektiven Ansprüchen konfrontiert, die noch vor wenigen Jahrzehnten gehobenen Professionen vorbehalten waren. Die Arbeit soll den Menschen befriedigen, seine Fähigkeiten herausfordern und entwickeln, seine Eigenart zur Geltung kommen lassen. Arbeit soll nicht beliebige Verrichtung eines Individuums, sondern SEINE Arbeit sein. Damit der Mensch in der Arbeit »aufgehen« kann, muß die Arbeit wenn schon nicht IM Menschen, dann doch FÜR ihn aufgehen, Sinn stiften. Sachbindung und Sachverhaftung allein tragen kein zeitgemäßes Verhältnis zum Beruf. Das Verlangen nach Authentizität hat auf die Arbeitswelt übergegriffen, sich in ihr ausgebreitet; das mag man wie Richard Sennett beklagen1 oder wie Charles Taylor schlicht als Grundzug unserer Kultur ansehen2.
5. Der Beruf als sozialer Stand, als kollektives Gut, als eine Art Legat, dessen der einzelne sich würdig erweisen muß und würdig erweist, indem er sich als Glied in einer langen Kette, als Teil eines umfassenderen Ganzen aufführt, eingebettet in verbindliche Traditionen, Praktiken, Ehrbegriffe – das war die Welt, die August Sander festhielt, vielleicht zum letzten Mal. Sein Konditormeister aus dem Jahr 1928 liefert einen klassischen Ausdruck des noch organischen Berufsverständnisses. Daß der Photograph die Person im vertrauten Dekor ihrer gewohnheitsmäßigen Beschäftigung zeigt, auf die Situation verfremdende Kunstgriffe verzichtet, untermauert die Aussage: Dieser Mann ist eins mit seiner Arbeit, er repräsentiert seinen Beruf für seine Zeitgenossen wie für seine Nachwelt; SO soll ein Konditormeister sein. Sein Habitus ist durchwirkt von einer ehrwürdigen Vorgeschichte, in deren Abglanz er sich sichtlich sonnt, und die innere Zufriedenheit, mit der er sein Handwerk vorführt, gibt sich gefaßt, zurückgenommen, als wäre sie in Stolz und Würde eingerahmt; kein Hauch von Ironie liegt auf dem Bild. Person und Rolle sind noch ungeschieden; die Person geht in der Rolle auf, die Rolle füllt und erfüllt die Person; ohne das Gefühl, sich zu verleugnen, hüllt sich das Individuum in Konventionen und ritualisierte Gesten ein. – Nicht immer sind es der Beruf, das funktionelle Schema, die die individuellen Besonderheiten der Person einfangen und typologisierend überblenden. Arbeiter der untersten Kategorie, Lackierer, Kohlenträger, Handlanger oder Schauerleute, die Sander in jenen Jahren porträtierte, kurz vor dem »Großen Krach« von 1929, wirken gleichfalls wie Exempel aus dem Garten der sozialen Arten. Nur ist es in ihrem Fall das kollektive Lageschicksal und nicht der Berufsstand, der das expressive Spiel von Minen und Gebärden streng normiert. In der Normierung als solcher, der weitgehenden Verwandlung sozialer Fremdzwänge in Selbstzwänge des Ausdrucksverhaltens, traf sich die traditionelle Mitte der Gesellschaft mit der Arbeiterschaft. Die persönliche Eigenart, individuelle Stimmungen, Gefühle und Wünsche zwangloser artikulieren zu können, war zu Sanders Zeiten das Vorrecht von Minderheiten, von Künstlern und Intellektuellen, großstädtischen Angestellten oder weltläufigen Unternehmern. Die Rundfunksekretärin aus dem Jahr 1931 spricht zu uns wie eine gute Bekannte; in ihrer Epoche kühn, beinahe avantgardistisch, formuliert ihr Gestus eine inzwischen allgemeine Forderung an das Leben wie an den Beruf: Sie sollen UNS gehören, das Leben ganz, die Arbeit soweit es irgend geht.
6. Einheit von Arbeit und Leben, von Sein und Tun für jede und für jeden – das ist die Forderung der Gegenwart. Wo sie enttäuscht wird, meldet sich ein unglückliches Erhabensein über die soziale Rolle zu Wort. Auch davon legt die Köchin bildlich Zeugnis ab. Für den ganzen Umfang dessen, was sie in ihrem bisherigen Leben an Sachkenntnis erworben, sozial mit anderen erfahren hat, bietet die Arbeit in einer Großküche ein allzu eingeschränktes Betätigungsfeld. Sie weiß mehr zu geben, als man von ihr verlangt, und dieses Gefühl, im Beruf nicht wirklich aus sich herausgehen zu können, teilt sie mit ungezählten anderen. Die Unzufriedenheit, mitten im Aktivitätszentrum der Gesellschaft zu verkümmern, seine besten Jahre zu verlieren, nur dahinzuleben, gab den Anlaß zur vorläufig letzten Revolutionierung der Arbeitsverhältnisse. Sie griff die Forderung auf, proklamierte die Einheit von Arbeit und Leben – und »arbeitete« das Leben in die Arbeit ein.
1. Beklagenswert der Mensch, der keine Arbeit findet:
»Die Arbeit ist der Eckstein, auf dem die Welt ruht, sie ist die Wurzel unserer Selbstachtung.«3
»Wenn sich eine Ware nicht verkauft, mag das ärgerlich sein; ein Mensch ohne Arbeit aber, das ist eine Tragödie.«4
Beklagenswert der Mensch, der Arbeit leistet:
»Von Belang für die Gesellschaftsordnung, in der wir leben, ist nicht so sehr, daß zum ersten Mal in der Geschichte die arbeitende Bevölkerung mit gleichen Rechten in den öffentlichen Bereich zugelassen ist, als daß in diesem Bereich alle Tätigkeiten als Arbeiten verstanden werden, daß also, was immer wir tun, auf das unterste Niveau menschlichen Tätigseins überhaupt, die Sicherung der Lebensnotwendigkeiten und eines ausreichenden Lebensstandards, heruntergedrückt ist.«5
Der Mensch am Ende aller Arbeit – am Ende seiner selbst?
»Ich denke mit Schrecken daran, welche Umstellung der Gewohnheiten und Instinkte das vom Durchschnittsmenschen erfordern würde, Gewohnheiten, die sich über zahllose Generationen eingenistet haben und nun womöglich binnen einiger weniger Jahrzehnte abgelegt werden sollen …« Käme es so, sähe »sich der Mensch erstmals seit seiner Erschaffung seinem wahren und beständigen Problem konfrontiert – mit der Frage, was er mit seiner Freiheit, seiner Befreiung von drängenden wirtschaftlichen Sorgen, mit einem Wort, mit seiner Freizeit, die ihm Wissenschaft und Zinseszins beschert haben, anfangen soll, um ein gleichermaßen vernünftiges, angenehmes und gutes Leben zu führen«.6 – Auszüge aus dem verwirrenden Rollenspiel der Arbeit, die mehr über die Kunst ihrer intellektuellen Maskenbildner als über ihr Wesen verraten. Oder sollte gerade das ihr Wesen sein – den Blick gewandt zu spiegeln, der sie trifft? Sollte sie, die die menschliche Natur, den sozialen Charakter des Menschen wie keine andere Praxis formte, um- und neu schuf, selbst ohne Charakter sein?
2. Was ist Arbeit? Die Frage, ohne weitere Umstände als solche aufgeworfen, liegt auf derselben rätselhaft-vertrauten Ebene wie die nach dem Menschen oder nach der Zeit. Man weiß die Antwort, solange man nicht ausdrücklich gefragt wird; wird man gefragt, weiß man sie nicht. Der Beantwortung weit zugänglicher ist die Frage, was Menschen in verschiedenen Epochen jeweils »Arbeit« nannten, wie sie darüber dachten und urteilten, welchen Rang sie denen zuwiesen, die Arbeit verrichteten; die historische Frage also anstatt der Wesensfrage. Die Literatur darüber ist so unerschöpflich wie der Gegenstand selbst; ein Referat verbietet sich allein aus Platz- und im speziellen aus Interessegründen. Die Perspektive würde durch die Last des Materials erdrückt, flach wie ein Bürgersteig. Lohnend in der Sache wie für uns, die wir nach Überblick verlangen, erscheint ein geschichtlicher Aufriß, der die hauptsächlichen Stationen und markanten Wandlungen des Arbeitsverständnisses aus dem geschichtlichen Strom heraushebt. Erst wenn der Begriff der Arbeit durch diese historische Bemühung geschärft ist, können wir mit einiger Bestimmtheit sagen, nicht, was Arbeit »ist«, wohl aber, was sie uns bedeutet, noch immer oder eigentümlich, und ob wir, alles in allem genommen, zu der Aussage berechtigt sind, daß Arbeit im Sinne dieses, unseres kulturellen Selbstverständnisses unwiderruflich an Bedeutung verliert, daß wir den Horizont der Arbeitsgesellschaft überschreiten oder schon überschritten haben.
3. Die folgenden Erkundungen sammeln Bausteine für eine Phänomenologie der Arbeit; was Arbeit »an sich«, unabhängig und getrennt vom dem sein kann oder soll, was Menschen kulturell mit ihr verbinden, liegt jenseits ihres Gesichtskreises, jenseits sinnvoller theoretischer Problematisierung überhaupt. Das vermeintliche »Sein der Arbeit«, ihr zeitloses Wesen werden sich bei eingehender Prüfung stets als ärmliche Abstraktion entpuppen, als Produkt einer allzu eiligen Soziologie, die einige mehr oder weniger zufällige Bestimmungen aus dem Bestimmungskranz herausgreift und mit der angemaßten Kompetenz eines Gesetzgebers zum Eigentlichen stilisiert. So erhaben sich solch geistige Hohlformen über die Wirklichkeit dünken, so regelmäßig verstricken sie sich in dieselbe oder werden in sie verstrickt, begegnet man ihnen dort, wo es am seichtesten zugeht, inmitten interessen-, ja oft genug tagespolitischer Rangeleien.
Der Diskurs über Arbeit ist umstritten7 und dieser Streit selbst Teil umfassenderer Auseinandersetzungen, in denen Arbeit als Praxis unter anderen Praxisformen erscheint, die mit- und gegeneinander um Rang und Anerkennung ringen. In diesem Kampf ist jede geistige Handreichung willkommen, und bequemt sich eine Theorie zum Handlanger oder läßt sie sich dazu bequemen, hat sie ihre Autonomie verwirkt und ihren Zweck verfehlt. Statt Reflexionsform der Praxis zu sein, wird sie zu deren Kommis. Ob sie in diese mißliche Lage dadurch gerät, daß sie die Arbeit vergöttert oder verteufelt, jegliche Aktivität zur Arbeit erklärt oder Arbeit umgekehrt den Passiva der menschlichen Existenz zuschlägt, ist demgegenüber schon fast belanglos. Der Theoretiker handelt, indem er denkt, und wenn aus seinem Denken praktisch etwas »folgt«, dann ist es Abstand von der Praxis, Übersicht statt Ansicht.
4. »Krise, Ende der Arbeitsgesellschaft – was kommt danach?« Die Frage so zu stellen (und so wird sie heute oft gestellt) heißt, allzuforsch zu Werke zu gehen, vorauszusetzen, was herauszufinden ist. Das Fragezeichen gehört vor den Gedankenstrich. »IST die Arbeitsgesellschaft am Ende, ihr Zustand wirklich kritisch?« »Woran zeigt sich das für alle nachvollziehbar?« »Kann es einen neutralen Maßstab zur Beantwortung dieser Frage überhaupt geben?« Das Problem in dieser Weise aufzuwerfen bedeutet, dem Verdacht Gehör zu schenken. Könnte es nicht sein, daß all jene, die vom Ende oder von der finalen Krise der Arbeitsgesellschaft reden, mit einem Arbeitsbegriff operieren, der unzulässig verabsolutiert, was »Arbeit« in einem kleinen Teil der Welt während einer kurzen geschichtlichen Zeitspanne bedeutete: sichere, auskömmliche Beschäftigung, die annähernd jeder und jedem ein eigenes Leben ermöglichte? Legt man diesen exklusiven Maßstab an, wird Arbeit rar und kostbar wie Wasser in der Wüste. Aber schließt der Begriff der Arbeit zwingend den des gut gegründeten Lebens ein, verwechselt, wer so denkt, nicht Ausnahme und Regel? Arbeitet nicht auch, sogar im eigentlichen Sinne, wer seine Kräfte am Objekt verzehrt, sich aufreibt und dennoch kaum die nackte Existenz gewinnt? Wäre die Krise der Arbeitsgesellschaft (von deren Ende ganz zu schweigen) nicht bald behoben, wenn Arbeit wieder zum geschichtlichen Normaltarif geleistet würde? Der Streit um Arbeit ist keine akademische Veranstaltung; die Affinität bestimmter theoretischer Vorstellungen zu bestimmten (wirtschafts-)politischen Strategien ist eng, für die Autonomie des Denkens bedrohlich eng.
Diese Verquickung tritt noch deutlicher hervor, wenn die Perspektive wechselt. Die Frage lautet dann nicht, ob Arbeit das respektable Dasein in sich einbegreift, sondern umgekehrt, ob und inwiefern der Begriff des Menschen den der Arbeit einschließt (gleichgültig in welcher Form und Güte). Bildet Arbeit den humanen Wesenskern, so daß wahrhaft Mensch nur ist, wer sich in den sozialen Schraubstock fügt? Was bleibt vom »Menschen«, wenn man die »Arbeit« von ihm abzieht? Eine Kultur, die in der Überzeugung lebt, daß Arbeiten und Menschsein ineinandergreifen wie die Glieder einer logischen Figur, wie Schluß und Rückschluß, wird die Arbeitsgesellschaft mit allen nur erdenklichen Methoden verteidigen und kein Zwangsmittel verschmähen, das ihre Annahme sicherstellt. Sofern und solange sich soziale Ordnung und Arbeit wechselseitig vertreten, steht das Leben ohne Arbeit für Regellosigkeit, Schmarotzertum; es bedarf schon gehöriger Anstrengungen, sich diesem Urteil innerlich zu widersetzen. Bislang hat die Arbeitsgesellschaft noch jede Herausforderung gemeistert, vor die sie sich gestellt sah. Das große Gefäß, das alles für Menschen Wertvolle und Unverzichtbare in sich birgt, ARBEIT, trug Risse davon, aber es ging nicht entzwei. Zerbrechen kann es erst, wenn es als das erkannt wird, was es in Wahrheit ist: eine kulturelle Projektion des menschlichen Gehirns.
5. Wie sich im Verlauf der weiteren Darstellung noch wiederholt erweisen wird, wäre es viel zu einfach, den Streit der Konzeptionen allein im Oben-unten-Schema anzusiedeln, so zu tun, als würden nur die Regierenden verbissen verteidigen, was die Mehrheit der Regierten im Prinzip aufzugeben bereit ist: ein auf Arbeit aufgebautes Leben. Die Kontroverse geht mitten durch die Gesellschaft, und die Befürworter arbeitsfreier Daseinsgarantien wissen die Mehrheitsmeinung gegen sich. Verbreitet ist die Präferenz für »gute« und die Abneigung gegen »schlechte« Arbeit, gegen den »Arbeitsverschnitt«, den Politiker und Unternehmer in Umlauf setzen. Als Reaktion auf das Dahinschwinden wertgeschätzter Arbeit erheben sich seit längerem Versuche, der Arbeitsgesellschaft, dem modernen Arbeitsglauben allgemein, ganz neue Quellen zu erschließen. Sie brechen bewußt mit der unter Regierenden wie Regierten geläufigen Identifizierung von Arbeit mit Lohn- bzw. Erwerbsarbeit. Das Streben geht dahin, Handlungen und Tätigkeiten unterhalb der formellen Erwerbsschwelle so aufzuwerten, daß sie dieser moralisch gleich geachtet und materiell annähernd gleich geschätzt werden. Da sie regelmäßiges und kontinuierliches Erwerbsleben überhaupt erst ermöglichen, nicht zuletzt durch die Produktion und Aufzucht immer neuer Erwerbsgenerationen, sollen sie als Arbeiten gelten wie andere Arbeiten auch. Sollte dieses reformierte, »erweiterte« Arbeitsverständnis triumphieren, muß uns um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft nicht bange sein, steuern wir auf Gesellschaften zu, die von »Arbeit« geradezu überschwemmt werden. Aber vielleicht geht es gar nicht um Sieg oder Niederlage, um Alles oder Nichts; vielleicht sollten wir uns auf Kompromisse einstellen, auf »unsaubere« Allianzen zwischen Verfechtern, Reformern und Kritikern der Arbeitsgesellschaft? Gewiß ist auf diesem ungewissen Feld nur eines: Arbeit und Arbeitsgesellschaft sind, wie alle kulturellen Phänomene, in hohem Maße das kollektive Produkt von »Wille und Vorstellung«.
6. Die Art, wie hier auf die Arbeit, den Arbeiter als Grundfigur des Sozialen geblickt wird, erstreckt sich im folgenden auch auf den Bürger und den Menschen. Konsequent zu Ende gedacht, führt diese Betrachtungsweise zum methodologischen Nominalismus. Anders als sein dogmatischer Vorläufer leugnet dieser das Wesen der Dinge nicht; er zeigt sich am Zeitlos-Allgemeinen nur nicht interessiert. Arbeiter, Bürger, Mensch sind für ihn das, was Wahrnehmung und Diskurs bestimmter Epochen über sie ERMITTELN, FESTSTELLEN. Gleich einem Gerichtsverfahren, das Appellation und Wiederaufnahme der Verhandlung zuläßt, geht er von der Vorläufigkeit dieser Ermittlungen und Feststellungen aus. In beständigem geschichtlichem Fluß begriffen, unterliegen diese Bestimmungen der Revision, die das momentan für wahr Gehaltene zweifelnd auflöst und neue Gewißheiten fixiert. – Ob z. B. der Mensch als Bürger Anspruch auf Subsistenz auch ohne Erwerbsarbeit besitzt, läßt sich weder aus dem Bürger- noch aus dem Menschsein folgern. Der Anspruch besteht, sofern der Diskurs die beiden Komponenten »Bürger« und »arbeitsfreie Subsistenz« auf eine für schlüssig gehaltene Weise zusammenfügt. Der Anspruch verfällt oder kann nicht erhoben werden, wenn eine solche Synthese im Raum des Denkbaren keine Überzeugungskraft entfalten oder in ihm als Möglichkeit gar nicht erst auftauchen kann. Daß der historische Stafettenlauf der Gewißheiten in sich selbst geordnet verläuft, fortschrittlich, ist trotz aller zum Teil einschneidender Brüche eine sinnvolle Annahme. Jeweils spätere Feststellungen des Bürgers und seiner Rechte heben, langfristig gesehen, frühere Ansprüche in sich auf und erweisen sich ihnen dadurch als überlegen. Nur sorgt dafür kein Automatismus. Es sind immer konkrete soziale Kräfteverhältnisse, die den Ausschlag zugunsten dieser oder jener Konzeption des Arbeiters, Bürgers oder Menschen geben, die deren spezifisches kulturelles Gewicht ermitteln. Diese Kräfte aufzuspüren, ins Diskursgeschehen einzuführen ist Teil des Programms des methodologischen Nominalismus; davon abzusehen hieße in bloße Ideengeschichte zurückzufallen.
1. Die erste systematische Klassifikation der »Arbeitswelt« in unserem Kulturkreis, dem abendländischen, findet sich bei Platon, in seiner »Politeia«. Dort ordnet er die unter dem Diktat der Notwendigkeit, der sozialen Notdurft stehenden Beschäftigungen, zerteilt er den untersten gesellschaftlichen Stand, den »Nährstand«, nochmals in Stände, in wahlverwandte Berufsgruppen. Voran die Bauern und Handwerker, die greifbare Dinge, verkäufliche Waren hervorbringen, gefolgt von Krämern und Handelsleuten, »schwächlichen Naturen«, die das daheim oder auswärts schon Hervorgebrachte nur vermitteln, zu den Märkten weiterleiten. Ganz unten in dieser Hierarchie der Notgebeugten stehen die Tagelöhner. Ohne spezielle Fähigkeiten, nur auf ihre Körperkraft verwiesen, sind sie es, die im eigentlichen und engeren Sinne »arbeiten« und nichts als das. Inbegriff des Elends und des Ausgeliefertseins, definiert das antike Proletariat zugleich den gesamten Nährstand als einen minderwertigen, dem Begehren unterworfenen, weder tapfer wie die Wächter noch weise wie die Regierenden. Damit dieser Bodensatz nicht »aufschwemme«, die Herrschaft über das Ganze an sich reiße, müssen Vernunft und Mut ein festes Bündnis gegen den Erwerb und alle niederen Instinkte schließen.
Die »Politeia« ist kein Abbild der griechischen Zustände zu Platons Zeit, der im Niedergang begriffenen Stadtstaaten, sondern der Entwurf eines Idealstaates, eines guten, gerechten Gemeinwesens, das diese Krise durch Gemeinsinn überwindet. Das Ganze genießt Vorrang und Vorrecht gegenüber seinen Teilen, gegenüber Ständen und Individuen; niemand steht über ihm und niemand außerhalb. An der Spitze der Pyramide emanzipiert kommunistische Gütergemeinschaft die Regierenden von allzu irdischen Interessen, beugt sie der oligarchischen Versuchung vor. Der Gott des Reichtums, Pluto, wird aus der politischen Sphäre verbannt. Am Sockel bannt die Aufhebung der Sklaverei als ökonomischer Basis des Gesellschaftsbaus die Gefahr des Umschlags sozialer Erniedrigung in Unruhen oder Aufruhr. Nur eine soziale Gruppe findet in dieser Konstruktion keinen rechten Halt – die Proletarier. »Ein ergänzender Teil der Stadt«, das scheinen sie zu sein, aber welche Gewißheit, welche Sicherheit können Menschen daraus schöpfen, »die von seiten des Verstandes wohl nicht sehr in die Gemeinschaft gezogen zu werden verdienen«?8 Ohne definitiv ausgeschlossen zu sein, gehören sie doch nicht richtig dazu, stehen und bewegen sie sich gleichsam auf der Grenze zwischen innen und außen. Ihr soziales Sein ist diffus, uneindeutig, fragwürdig, die Fragwürdigkeit selbst aber nicht schlummernde Potenz, sondern vorherbestimmtes Schicksal; Existenz im Weder-Noch statt im Sowohl-als-Auch.
2. Aristoteles nimmt diese Klassifikationen in realistischer Absicht auf; ihm schwebt kein Idealstaat vor, sondern die legitime Ordnung empirisch vorfindbarer Gesellschaften. Daß sie wirtschaftlich auf der Arbeit Unfreier beruhen, ist für ihn kein Problem, sondern eine Erfahrungstatsache, von der er mit derselben Selbstverständlichkeit ausgeht, mit der er die Sklaven, diese »lebendigen Werkzeuge«, aus dem Gemeinwesen aussiebt; sie kommen als Bürger und Staatsbürger nicht in Betracht. Und die anderen Bewohner des Reichs der Notwendigkeit, die Bauern, Handwerker, Händler, Tagelöhner, wie verhält es sich mit ihnen? Anders als Platon, der die ersten drei sozialen Gestalten deutlich von der vierten abhob und der bürgerlichen Gesellschaft zuschlug, zu deren »Untergrund« bestimmte, betont Aristoteles ihren bürgerlichen Makel, ihren nur graduellen Abstand vom Proletarierdasein. Die Unterordnung des Lebens unter den Naturzwang, unter das Kreatürliche, entehrt für ihn den Menschen im Bürger und daher letztlich den Bürger selbst. Ein »im Handwerk oder Tagelöhnerdienst verbrachtes Leben kann die der Tugend zugehörenden Eigenschaften nicht herbeiführen«. Weil die Tugend des Bürgers weder dem Bürger noch dem Freien als solchem, sondern ausschließlich jenen innewohnt, welche vom Erwerb des Lebensunterhaltes freigestellt sind,9 gibt es Bürger gröberen und Bürger edleren Seins. Zwar müssen die Landbauern und die Gewerbe und die ganze Klasse der Lohnarbeiter im Staate vorhanden sein, anerkannte Teile des Staates bilden aber nur die Waffentragenden und die Beratenden.10
Für Aristoteles ist weder der Freie automatisch vollwertiger Bürger, noch der normale Bürger automatisch frei. Die formelle, rechtliche Freiheit eines Menschen kann mit substantieller Unfreiheit einhergehen, mit einem Leben im Dienst des Lebenserwerbs, das den Bürger als Staatsbürger disqualifiziert. Die bürgerliche Gesellschaft, sofern man darunter das System der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung versteht, ist das Reich der Beschränkung, der Bindung an elementare Kräfte und Interessen, vom Reich der Freiheit abgeschnitten. Wirkliche Freiheit erfüllt sich im Engagement fürs Allgemeine, ist Leben im Geist der praktischen oder der theoretischen Vernunft. Dem Sklavendasein entronnen, siedelt die Gruppe der zweifelhaften, weil von Not befleckten Bürger, vom Proletarier bis zum Bauern aufgeschichtet, im Vorhof vernünftiger Existenz.
Die elitäre Konstruktion verweist zusammen mit der proletarischen Unterschicht die bürgerliche Mehrheit aus der eigentlichen Gesellschaft, dem Staat als solchem; das Zwischenreich des Weder-Noch, der schmale Grat des Proleten, dehnt sich zum weiten Feld; ein Realismus, der sich der Realität noch entschiedener verweigert als Platons Utopie. Mochte Lebensgewinnung durch Arbeit, Tausch und Erwerb auch nicht das Ideal des freien Menschen der (griechischen) Antike sein, so war das Leben der weitaus meisten Freien gleichwohl mit Arbeit befaßt, als Landmann, Handwerker, Ladenbesitzer oder Händler. Wer nicht selbst Hand anlegte, hatte doch irgendein Geschäft zu führen und zu beaufsichtigen, Lehrlinge geschickt zu machen, zugereiste Gastarbeiter und Sklaven zur Arbeit anzuhalten. Aristoteles zeigt sich davon wenig beeindruckt; sein Fazit schließt keinen Kompromiß mit den Gegebenheiten: »So viel ist jedenfalls wahr, dass man nicht alle die, ohne welche der Staat nicht bestehen kann, auch als Bürger ansehen kann …«11
3. Ein erster Merkpunkt für uns Heutige. Große gesellschaftliche Gruppen, ganze Stände, die für den Lebensprozeß des Gemeinwesens zu Recht als unentbehrlich galten, wurden vom intellektuellen Diskurs (und der auf ihn sich berufenden politischen Ordnung) entweder in soziale Grauzonen abgeschoben oder vollends aus dem Staatswesen ausgefällt; wer ihnen angehörte, war kein ordentlicher oder überhaupt kein Bürger. Dagegen gibt es gegenwärtig eine noch anschwellende Zahl von Menschen, die im vollen Umfang Bürger, Staatsbürger, für den ökonomischen Bestand des Ganzen aber nicht (mehr) unverzichtbar sind. Korpulenter Bürger, schmächtiger Arbeiter, worauf blickt dieses Mißverhältnis? Können erworbene Bürger- und Menschenrechte bar des Notwendigkeitsbeweises, des Signums ihrer Unentbehrlichkeit, verteidigt, vielleicht sogar gefestigt werden? Wie läßt sich umgekehrt verhindern, daß das Schrumpfen oder der Verlust der Arbeiterrolle auch auf die Bürgerrolle einen Schatten werfen, auf das Recht, Rechte zu haben und wahrzunehmen? »Wer seinen Arbeitsplatz verliert, ist unglücklich und wütend, und in fortgeschrittenen Industrienationen haben Arbeitslose eine Stimme. Sie wählen nicht nur, sie demonstrieren und randalieren auch.«12 Wie lange werden die Eliten und Mehrheiten diesen Protest ohne legitimen Grund und Würde dulden?
Thomas H. Marshall zufolge vollzog sich die Entwicklung bürgerlicher Rechte auf dieser Linie: juristische, politische, schließlich sozioökonomische Rechte. Erst kamen die Meinungsfreiheit und die Gleichheit vor dem Gesetz, dann das Recht auf politische Organisation sowie das Wahlrecht, die dritte, zeitlich letzte Gruppe rechtlicher Ansprüche bezog sich auf ökonomische Wohlfahrt und soziale Sicherheit.13 Werden wir demnächst Zeugen einer rückspulenden Entwicklung, die als erstes die SOZIALEN Garantien jener in Zweifel zieht, die immerfort nehmen, ohne zu geben – rechtliche Sonderbehandlung für die Zwangsreservisten der Arbeitswelt? Oder sind wir, ohne dessen recht gewahr zu werden, schon in sie eingetreten? Ich fürchte, wir sprechen von der Gegenwart! (§ 22.3)